Frauen mit psychischen Erkrankungen berichten im Vergleich zu Frauen in der Allgemeinbevölkerung deutlich häufiger über Gewalterfahrungen und es ist nahezu charakteristisch, dass es sich dabei um biografisch kontinuierliche Gewalt – von der Kindheit über die Jugend bis ins Erwachsenenalter – handelt. Trotz des gesicherten Wissens um die physischen und psychischen Folgen von Gewalterfahrungen in der Kindheit bleibt das Thema in der Versorgung eigentümlich unterbelichtet. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Thema Mutterschaft im Kontext psychischer Erkrankungen, das trotz der zentralen biografischen Rolle selbst im institutionellen Kontext weithin vernachlässigt und dabei häufig negativ besetzt ist.
Ute Zillig wendet sich mit ihrer soziologischen Dissertationsschrift »Komplex traumatisierte Mütter. Biografische Verläufe im Spannungsfeld von Traumatherapie, Psychiatrie und Jugendhilfe« beiden Themenbereichen in ihrer Verflochtenheit zu und berührt damit ein ebenso spannungsreiches wie praxisrelevantes Aufgabenfeld. Die Autorin verfügt über Erfahrungen als Sozialpädagogin im Frauenhaus, wo sie im Umgang mit Müttern und ihren Kindern »nicht selten verunsichert« war und viele Fragen »unbeantwortet« blieben. Durch ihr Soziologiestudium und bestens ausgestattet mit dem Methodenwissen zur sozialkonstruktivistischen Biografieforschung macht sie sich mit ihrer Studie auf die empirische Suche nach Antworten. Das gelingt ihr in überzeugender Weise.
Das Forschungsinteresse bilden die »spezifischen Lebenssituationen von gewaltbetroffenen Frauen mit Kindern und ihre lebensgeschichtlichen Erfahrungen«. Empirisch erfasst wurden diese in Form biografischer Erzählungen von Frauen, die sich aufgrund von innerfamilialen Gewalterfahrungen in der Kindheit in einer traumazentrierten, psychotherapeutischen Behandlung befinden und darüber hinaus über Erfahrungen mit dem Jugendhilfesystem verfügen.
Der Kern der Arbeit besteht aus fünf biografischen Rekonstruktion, in denen die Gewalterfahrungen in die familiengeschichtlichen, biografischen wie auch institutionellen Verläufe aus der subjektiven Sicht der Erzählerinnen eingebettet und am Ende zu einem biografischen Verlauf verdichtet werden. Die Lebensgeschichten der Frauen sind gut nachvollziehbar, eindrücklich und nicht immer leicht auszuhalten. Ausnahmslos geht die Autorin bei der Vorstellung des durch Familie und Gesellschaft erfahrenen Leids wie auch der Stärken der Frauen mit dem hier notwendigen Maß an Respekt und Sensibilität vor.
Jenseits individualbiografischer Spezifik arbeitet die Soziologin im Rahmen einer fallübergreifenden Analyse den kontinuierlichen und sozial verflochtenen Charakter von Gewalterfahrungen, deren mangelnde Versprachlichung und gesellschaftliche De- Thematisierung sowie die Präsenz von Diskursen zu transgenerationaler Weitergabe von Gewalt im Kontext psychischer Erkrankungen als gemeinsame, prägende Wirkfaktoren in den Biografien der interviewten Mütter heraus. Mit Blick auf die Leistungen des Gesundheits- und Jugendhilfesystems konstruiert die Autorin drei Verlaufstypen (»ermächtigend« – »etikettierend« – »sozial isoliert«) und legt damit eine differenzierte Analyse der Teilhabechancen vor, die einerseits durch die Akteurinnen selbst ergriffen und (auch) für die Bearbeitung der Traumata genutzt werden, die andererseits aber wesentlich durch entsprechende Angebote Dritter (informell und formell) komplementiert werden (müssen).
Soziale wie gesundheitsbezogene Unterstützungsleistungen, so resümiert Ute Zillig, können im besten Fall eine ermächtigende, bei fehlender Unterstützung und unflexiblen Angeboten aber auch eine beschränkend-entmachtende Wirkung entfalten – im schlimmsten Fall in Form von Re-Traumatisierungen in institutionellen Settings. Erhellend sind die Analysen auch hinsichtlich der Bedeutung traumasensibler Angebote zwischen ihrer individualisierend-stigmatisierenden Funktion psychiatrischer Diagnosen (z. B. PTBS) und der für die Frauen in diesem Rahmen teils erstmaligen Möglichkeit, ihre Erfahrungen zur Sprache zu bringen, sie hierüber sozial anschlussfähig zu machen und sie (dennoch) in der Interaktion zu regulieren.
Neben der Situation der Mütter wirft die Autorin einen – leider nur kurzen – Blick auf die Kinder, mit denen sie ebenfalls Interviews durchgeführt, diese jedoch nicht weiter analysiert hat. Hier hätte ich mir weitere, über die eher allgemeinen Hinweise zu deren »aktivem Umgang« mit ihrer Lebenssituation hinausgehenden Analysen gewünscht, wohl wissend, dass dies im Rahmen der vorgelegten Arbeit nicht möglich war. Positive »Verläufe« bei Kindern psychisch kranker Mütter bleiben im problemfokussierenden Diskurs mit einer oftmals verkürzten Sicht auf Parentifizierung leider häufig ausgeblendet.
Ute Zillig schließt ihre Analysen mit ebenso nachdrücklichen wie praktisch umsetzbaren Implikation ab. Dazu zählen neben dem schon oft gehörten Appell zur Überwindung der institutionellen Schnittstellen zwischen Jugendhilfe und Gesundheitssystem auch Forderungen zum vermehrten Einsatz des rekonstruktiven Fallverstehens, zur Überwindung des tabuisierten Umgangs mit Gewalterfahrungen, der fachlichen Weiterbildung in psychotraumatologischen Ansätzen sowie einer fachinternen Reflexion von Diskursen zu Mutterschaft.
Das in der Reihe ›Rekonstruktive Forschung in der Sozialen Arbeit‹ erschienene Buch ist sowohl für Praktizierende in den angesprochenen Handlungsfeldern geeignet, die sich einen Überblick über die die Hintergründe der Gewalterfahrungen und den Möglichkeiten zur Unterstützung in der Verarbeitung verschaffen möchten. Für methodisch Interessierte dient es zudem als Beispiel für gut gemachte Biografieforschung.
Silvia Krumm in Sozialpsychiatrische Informationen
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024